V o r w o r t Diese erste Ausstellung des Museums über die Zeit des Na- tionalsozialismus stellt die Geschichte und das Schicksal der Ravensburger Sinti in den Mittelpunkt.1 Sie thematisiert dabei nicht nur die kontinuierlich zuneh- mende Ausgrenzung dieser nationalen Minderheit, sondern zeigt auch auf, wie der Großteil der Bevölkerung, der zur na- tionalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ 2 zählte, in relati- ver Normalität weiterleben und von der Verfolgung anderer profitieren konnte. Der lokalgeschichtliche Zugriff stellt die nationalsozialistische Herrschaftspraxis konkret und exem- plarisch vor Ort dar. Abwertung, Ausgrenzung und Vernichtung auf der einen, Vereinnahmung, Aufwertung und Kult auf der anderen Seite kennzeichnen die auf Rasse und Blut, Volk und Raum aufge- baute NS-Ideologie. Die Schaffung einer homogenen „Volks- gemeinschaft“ setzte die systematische Vernichtung aller vermeintlich volksfremden, „rassisch“ nicht zugehörigen Menschen voraus. In Ravensburg, wie in anderen Städten auch, war der öffentliche Raum, die Topographie der Stadt, ein Spiegel der Verdrängungs- und Ausgrenzungsmechanis- men. In der Besetzung und Verteilung von Raum werden die Handlungskonzepte und Handlungsspielräume der Ravens- burger Stadtobrigkeit und der zur „Volksgemeinschaft“ um- formatierten Mehrheitsgesellschaft ablesbar. 3 Sabine Mücke 1 Sinti und Roma ist die Selbstbezeichnung der heute in ganz Europa verbreiteten vielfältigen Bevöl- kerungsgruppe, die vor etwa 1.000 Jahren aus dem Gebiet des heutigen Indiens bzw. Pakistans auswan- derte. Ihre Sprache Romanes bzw. Romani ist mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandt. Sinti lie- ßen sich vor etwa 600 Jahren u.a. in deutschsprachi- gen Gebieten nieder. In Ravensburg sind sie seit dem späten 19. Jahrhundert als dauerhaft sesshaft in den amtlichen Quellen nachweisbar. 2 „Volksgemeinschaft“ ist ein nationalsozialisti- scher Propagandabegriff, der die nationale Geschlos- senheit beschwor, aber als soziale Wirklichkeit nicht vorhanden war. Dennoch bot das Konzept für große Teile der Bevölkerung eine attraktive Übereinstim- mungs- und Loyalitätsbasis. Siehe dazu Norbert Frei, „Volksgemeinschaft“. Erfahrungsgeschichte und Le- benswirklichkeit der Hitler-Zeit, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 107–128. 3 Winfried Süß/Malte Thiessen (Hrsg.), Städte im Nationalsozialismus. Urbane Räume und soziale Ord- nungen, Göttingen 2017 Die Stadt als politischer und sozialer Raum erfüllte auch im Nationalsozialismus eine ordnende und segregierende Funk- tion. Zentrale Räume symbolisierten Herrschaft und waren der Repräsentation vorbehalten, sie standen der nationalso- zialistischen „Volksgemeinschaft“ zur Verfügung, ebenso wie Einrichtungen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, etwa Kinos, Vereine, Sportstätten. Fürsorgerische oder sozial- politische Aufgaben wurden zunehmend durch rassistische und ideologische Zuschreibungen begrenzt. Eine Fotografie, die dies exemplarisch deutlich macht, zeigt drei modisch gekleidete Frauen, die in der belebten Ravens- burger Innenstadt für die Kamera posieren: eine Szenerie, die Geschäftigkeit und städtisches Lebensgefühl widerspiegelt. Die Hakenkreuzfahnen am Rathaus im Hintergrund treten in der Schwarz-Weiß-Aufnahme nicht gleich so deutlich hervor, ein Kaufhausschild mit dem Schriftzug „Möhrlin“ ist zu erkennen; die jüdischen Eigentümer Friedrich und Betty Landauer verkauften ihr Geschäft 1935 unter dem Zwang der herrschenden Verhältnisse an ihren lokalen Konkurrenten Georg Möhrlin. Das Bild entstand also etwa um die Zeit, in der am Stadtrand der Bau des Zwangslagers Ummenwinkel in Gang kam oder die Internierung der Ravensburger Sinti dorthin bereits stattgefunden hatte. Die Stadt Ravensburg ergriff 1936 die Initiative zum Bau dieses Zwangslagers für die einheimischen Sinti, noch bevor reichsweite Erlasse und Verordnungen zu deren „Festset- zung“ aufforderten. Sie wurden von der örtlichen Polizei er- kennungsdienstlich erfasst und durch pseudowissenschaft- liche Untersuchungen der „Rassenhygienischen Forschungs- stelle“ klassifiziert. Über den Bau des Lagers war in der lokalen Presse berichtet worden, zahlreiche Ravensburger Firmen beteiligten sich an 4